Ich sitze am Schreibtisch meines Büros zu Hause. Vor mir habe ich mir die Noten der heutigen Probe des Meisterchors proVocal Münzesheim bereit gelegt. Auf meinem Tablet rufe ich die E-Mail auf, die mein Chorleiter Matthias Böhringer bereits gestern geschickt hat und in der sich der Link zum Online-Proberaum befindet.
Er hat sich viel Mühe gegeben. Bereits zweimal hat sich der Chor schon zur Probe mittels des Videochatdienstes „Zoom“ getroffen. Heute steht die dritte Probe an und dieses Mal ist die Probezeit in verschiedene Abschnitte geteilt. Es ist kurz vor 20:00 Uhr und ich klicke auf den Link für das erste Meeting. Einsingen steht auf dem Programm. Der Chorleiter ist noch nicht eingeloggt, aber ich blicke in die Gesichter verschiedener meiner Mitsänger. Der ein oder andere ist noch dabei seine Einstellungen am jeweiligen Gerät zu testen und einzurichten. Es gilt Rückkopplungen zu vermeiden und die Audiokanäle richtig einzustellen. Dann geht es los. Matthias hat sich eingewählt und begrüßt uns zur Probe.
Sicherlich ist es zunächst ein ungewohntes Gefühl. Da sitze ich in meinem Schreibtischstuhl über 30 Kilometer entfernt von unserem eigentlichen Probeort und mache die Übungen, die ich aus so vielen gemeinsamen Proben kenne. Es ist gleichzeitig eine Vertrautheit und doch etwas völlig Neues. Ich sehe nur Matthias und höre nur ihn und mich. Dennoch fühle ich mich der Gemeinschaft verbunden, denn von Zeit zu Zeit melden sich Sänger und Sängerinnen auf die Frage des Dirigenten zurück, wie die Übungen geklappt haben und lassen mich unmittelbar an ihren Erfahrungen teilhaben.
Nach einer halben Stunde ist es Zeit für den nächsten Abschnitt. Ich rufe in der E-Mail den Link zum virtuellen Proberaum für die Frauenstimmen auf und nur wenige Sekunden später geht es los. Matthias geht mit uns die Stimmen aus Bachs „Jesu, meine Freude“ einzeln durch. Die Isolation verzeiht keine Fehltritte. Ich höre gnadenlos, was ich noch nicht kann – aber auch, was ich kann! Die meiste Zeit über ist mein Mikrophon stumm geschaltet. Aufgrund der zeitlichen Verzögerungen durch die Übertragung ist es leider nicht möglich, die anderen gleichzeitig zu hören. In dieser Probe gibt es jedoch eine Ausnahme: Akkorde können wir nämlich auch über das Netz gemeinsam bilden und ich freue mich – wenn auch nur kurz – die anderen Stimmen zu hören.
Die Zeit verfliegt und die Männer sind an der Reihe. Ich kann mich nun entweder kurz zurücklehnen oder die Zeit weiter nutzen, mich sängerisch fortzubilden: Matthias ist während der Pandemie fleißig gewesen und hat uns bereits den zweiten Teils seines Skripts zur Stimmbildung geschickt. In das Skript kann ich mich vertiefen, bis eine halbe Stunde später der letzte Teil der Probe beginnt. Nun sind wieder alle Stimmen – wenn sie auch nicht zu hören sind – virtuell vereint und wir pflegen gemeinsam unser Repertoire und erlernen sogar neue Stücke. Wie es wohl klingt, wenn sich die Stimmen nach so langer Zeit irgendwann wieder an einem Ort vereinen?
Nach der Probe loggen wir uns nicht sofort aus. Es bietet sich die Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen und die Meinungen über die virtuelle Art zu proben zu teilen. „Nach einem Arbeitstag, den ich die meiste Zeit am Bildschirm absolviere, fällt es mir schwer, auch noch meine Freizeit dort zu verbringen. Chorsingen findet im Miteinander statt; die Korrektur der eigenen Stimme über den gemeinsamen Klang“, teilt einer meiner Mitsänger mit. Ich verstehe ihn und sehe auch die Unterschiede. Ich weiß aber auch, dass ich in dieser besonderen Zeit dankbar bin, dass mich das virtuelle Treffen dazu bringt zu singen. Ich habe wieder etwas gelernt, wenn auch auf eine andere Weise als sonst. Auch wenn ich die anderen nicht höre, so weiß ich, dass sie im selben Moment auch singen und das bringt uns auch in Zeiten des social distancing ein Stückchen näher zusammen.